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  • Matthias Hempert

Wir sind die Guten!

Aktualisiert: 22. Okt. 2020

„Es gibt viele Menschen, die sind wahnsinnig vorsichtig und sehr vernünftig. Und einige wenige sind sehr unvernünftig.“ So äußerte sich Markus Söder, CSU-Parteivorsitzender, bayrischer Ministerpräsident und aussichtsreicher Anwärter auf das Kanzleramt ab 2021 im ARD-Sommerinterview vor wenigen Tagen. Mit den Unvernünftigen hatte er wohl besonders die rund 20.000 Anti-Corona-Demonstrierenden im Blick, die einen Tag vor Aufzeichnung des Interviews in Berlin ohne Abstand und Maske gegen die Eindämmungsmaßnahmen auf die Straße gegangen waren. Es ist unstrittig, dass das Verhalten der Rechtsextremist*innen und Verschwörungsideolog*innen auf der Demonstration inakzeptabel und unsolidarisch ist. Dennoch ist Söders Position (die, das sei der Vollständigkeit halber erwähnt, natürlich nicht nur von ihm, sondern von vielen Politikern vertreten wird) zu bequem.


Wer das Sommerinterview geschaut hat, kann sich entspannt zurücklehnen und sich sagen: Natürlich gehöre ich zu den vielen vernünftigen Menschen, ich besuche ja keine Anti-Corona-Proteste! So einfach ist es jedoch nicht – denn auch wer mit Attila Hildmann und Ken Jebsen nichts anfangen kann, verhält sich oftmals unvernünftig. Davon konnte man sich mit einem Blick auf gut gefüllte Kneipen, öffentliche Verkehrsmittel und Badestrände in den letzten Wochen allenthalben ein Bild machen. Wer kann schon von sich behaupten, die Corona-Warn-App heruntergeladen und bei jedem Verlassen des Hauses eingeschaltet zu haben, immer auf ausreichenden Abstand zu achten und in geschlossenen Gebäuden stets eine Mund-Nase-Bedeckung zu tragen, diese praktisch täglich gründlich zu reinigen sowie größere Menschenansammlungen und unnötige Treffen konsequent zu meiden?


Um mit Blick auf die Pandemie wahnsinnig vorsichtig und sehr vernünftig zu handeln, wäre genau das nötig. Kaum jemand wird ein solch vorbildliches Verhalten für sich beanspruchen können, jedenfalls aber nicht alle außer ein paar verrückten “Covidioten”. In der breiten Masse der Gesellschaft gilt heute ein Verhalten als normal, das vor einigen Monaten – auch bei ähnlichem R-Wert und ähnlichen Fallzahlen – als inakzeptabel wahrgenommen worden wäre. Das ist auch verständlich: Der Mensch ist ein soziales Wesen und hat ein Bedürfnis, sich mit anderen Menschen zu treffen. Er ist ein Gewohnheitstier, es fällt ihm schwer, dauerhaft den eigenen Alltag umzustellen. Er ist nachlässig und vergesslich. Er lässt sich oft eher von Stimmungen leiten als von Fakten. So stehen wir in der Pandemie alle vor schwierigen Abwägungsfragen: Welche Party zu besuchen ist vertretbar, welche nicht? Unter welchen Bedingungen? Bei solchen Fragen gibt es kein einfaches Vernünftig und Unvernünftig, kein einfaches Richtig und Falsch.


Einfach falsch ist es aber, pauschal zu behaupten, der Großteil der Bevölkerung verhalte sich wahnsinnig vorsichtig und vernünftig. Das ist nicht nur unzutreffend, sondern auch gefährlich: Söder-Fans, die das Sommerinterview gesehen haben, können sich durch diese Behauptung bestätigt fühlen und sich immer noch für hochgradig vorsichtig halten, wenn sie nach dem dritten Erdinger im Biergarten auf jeden Abstand verzichten und beim Gang auf die Toilette keine Maske tragen. In Wahrheit ist das Gros der Bevölkerung weder wahnsinnig vorsichtig noch sehr unvernünftig, sondern bewegt sich in einem Graubereich, mit dem sich aber nicht so leicht Politik machen lässt.


Es ist eine typisch bürgerlich-konservative Argumentationsfigur, von sich selbst in Kategorien wie „die Normalen“, „die Vernünftigen“ oder „die Guten“ zu denken und die Anderen – also Menschen, die den eigenen Normen nicht entsprechen – als die Verrückten, Perversen, Asozialen, Proleten, Ausländer, Ideologen, Verbrecher usw. abzustempeln. Das ist Unsinn, dem es sich argumentativ entgegenzustellen gilt! Denn eine solche Denkweise stützt unkritisch die herrschenden Verhältnisse und verfestigt Vorurteile, die gerade besonders schutzbedürftige gesellschaftliche Gruppen ausgrenzen. Wir alle müssen die Ambiguität aushalten, in der Corona-Pandemie nicht einfach „die Vernünftigen“ zu sein, und uns eingestehen, dass auch wir nicht immer die nötige Vorsicht an den Tag legen. Erst von dieser Einsicht ausgehend ist wirklich vernünftiges Handeln möglich.


Es ist übrigens nicht das erste Mal, dass Markus Söder auf diese Weise argumentiert. Vor wenigen Wochen hatte Söder in einem ZDF-Interview die Chuzpe zu behaupten: „Die Polizisten sind in Deutschland die Guten. Sie sorgen dafür, dass wir beschützt werden vor Verbrechern.“ Diese Kindergarten-Erklärung ist nicht nur eine Beleidigung für den Intellekt jedes Zuschauers, sie verharmlost auch die von deutschen Polizisten ausgehende Gewalt gegen diejenigen gesellschaftliche Gruppen, die für konservativ-bürgerliche CSU-Wähler nicht zu den Normalen gehören. Auch von einem konservativen bayrischen Ministerpräsidenten muss man erwarten können, über ein derart holzschnittartiges Schwarz-Weiß-Denken hinauszukommen. Für einen möglichen Kanzlerkandidaten mit so außergewöhnlich hohen Beliebtheitswerten wie Markus Söder gilt das erst recht. Es bleibt zu hoffen, dass die Bürgerinnen und Bürger genug kritischen Verstand haben, um Söders irreführende Vereinfachungen als das zu erkennen, was sie sind.

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