- wearedrina
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Aktualisiert: 8. Mai 2022
Der Lockdown geht in die x-te Verlängerung, draußen türmen sich die Schneeberge und die Klausurenphase neigt sich dem Ende zu (oder zumindest sehnt ihr das herbei)? Zeit, sich mal wieder einzukuscheln und ein gutes Buch zu lesen. Wir haben für euch unsere aktuellen Bücherlieblinge herausgekramt und für euch einen Mix zusammengestellt.
Buchtipp 1 von Jörg:
"Dear Oxbridge - Liebesbrief an England" von Nele Pollatschek
Dieses Buch handelt von den individuellen Erfahrungen des Autors in England als Student und Insider der englischen Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge - von daher auch der Titel "Dear Oxbridge", welcher ein Mix aus beiden genannten Unis ist. Damit einher geht auch eine gewisse Anspruchshaltung, denn dort laufen die vermeintlich gewöhnlichen Dinge des Alltags etwas anders. Wenn sich Nele Pollatschek mit den Unterschieden von deutschen Essays und britischen Essays beschäftigt, stellt sie fest, dass das Wort "Essay" auch wirklich die einzige Gemeinsamkeit ist, die beide miteinander verbindet. Im Laufe des "Liebesbriefes an England" werden die Leserinnen und Leser mit auf die Reise genommen, wie es sich anfühlen muss, in dem Körper von Pollatschek zu stecken. Meine Highlights waren für mich die Sequenzen, in denen der Autor von dem Prozess erzählt, wie sie es nach "Oxbridge" geschafft hat, ihren ernüchternden Erfahrungen in einer internationalen WG am Morgen des 24. Juni 2016 (dem Tag nach der Brexit-Abstimmung) und vor allem der, für uns Deutsche, unverhältnismäßige hohe Konsum von Psychopharmaka in allen Lebenslagen. Dazu ist der Autor ein Verfechter eines besonderen "Nicht-Genderns", dem sie ein ganzes Kapitel widmet. Das Werk von Nele Pollatschek ist sehr unterhaltsam geschrieben, nebenbei lernt man auch noch etwas über eine andere Kultur. Also alles in allem liest sich dieses Buch einfach wie "Feuerwerk unter Wasser". Aber um das zu verstehen, rate ich euch das Buch zu lesen und lieben zu lernen, wie ich es erlebt habe.
Nele Pollatschek: "Dear Oxbridge. Liebesbrief an England." Galiani Berlin (Kiepenheuer & Witsch), Berlin 2020. 240 S., Taschenbuch, 16€
Buchtipp 2 von Skadi:
"Die Vegetarierin" von Han Kang
Das Cover von "Die Vegetarierin" könnte auf den ersten Blick auch zu einem Liebes- oder Erotikroman gehören. Um so länger man es ansieht, desto mehr wird dieser Eindruck gebrochen. Ähnlich verhält es sich mit dem Inhalt des Buches: die Autorin Han Kang versteht es ihre Leser:innen in fast schon absurd poetischer Sprache zu verstören und aufzuwühlen. Im Zentrum der Geschichte steht Yeong-Hye, ihrem Ehemann nach eine in jedem Sinne durchschnittliche und unterwürfige Hausfrau, die sich vom einen Tag auf den anderen entscheidet kein Fleisch mehr zu essen. Was sich erstmal nach einer kaum erwähnenswerten Entscheidung anhört, stellt in der Südkoreanischen Gesellschaft (zumindest zur Zeit des Romans) einen absoluten Bruch mit der Norm dar. Für Yeong-Hye ist es ein Akt der Befreiung: sie löst sich von den Rollenbildern, der Gewalt, und den männlichen Figuren, die bisher ihr Leben bestimmt haben. Sie beginnt sich zu wandeln und gleichzeitig selbst zu zerstören. Ihr Wandel wird aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben, die alle auf ihre eigene Art die Abgründe einer patriarchalen Leistungsgesellschaft aufdecken. Das Buch hat mich mit mehr Fragen als Antworten zurückgelassen, vermutlich ganz nach Han Kangs Plan.
Buchtipp 3 von Nathalie:
"Gone Girl- Das perfekte Opfer" von Gillian Flynn
Seit Jahren weigere ich mich, dem Vorschlag auf meiner Netflix-Startseite zu folgen und den Film "Gone Girl" anzusehen. Zu neugierig war ich auf das Leseerlebnis. Eigentlich gehören Thriller nicht zu meinem typischen Genre, doch dieses Buch hat alles verändert. Mit einer Mischung aus spannenden Sequenzen, verwirrenden Plottwists und einer bombastischen Erzählstruktur macht die Autorin es einem nahezu unmöglich, sich von ihren Worten zu lösen.
Kurz zur Story: Nicks Ehefrau scheint am gemeinsamen fünften Hochzeitstag plötzlich spurlos verschwunden. Die bedingungslose Liebe vom Anfang der Beziehung war schon zuvor Alltagstrott und gegenseitiger Abweisung gewichen und so kann Nick der Polizei nur wenig erzählen, das ihn nicht automatisch zum Hauptverdächtigen der ganzen Sache erwachsen lässt. Die Erzählperspektive wechselt immer wieder zwischen Nick und Tagebucheinträgen seiner Frau. Beide haben Geheimnisse, beide tragen Hass in sich. Aber wer ist dieses Mal zu weit gegangen?
Leser:innen begeben sich mit dem Ehepaar auf eine Reise durch deren Gedanken, sodass Parteiergreifen immer schwerer wird. Vielleicht kann man am Ende des Buches den Glauben an die Ehe oder Partnerschaften an sich verlieren. Aber für die Spannung, die man dabei erfährt, lohnt es sich allemal.
Buchtipp 4 von Sara:
"Gottes Werk und Teufels Beitrag" von John Irving
Homer Wells. Diese zwei Worte, dieser eine Name, verursacht bei dem Ein oder Anderen eine Welle von Emotionen.
John Irving schafft es in diesem Roman ein neues Licht auf die kontroverse Frage der Abtreibung zu werfen und auf rein menschlicher Ebene, unvoreingenommen und sicherlich nicht wertend, eine längst überfällige Konversation zu führen.
Ist es „Teufels Beitrag“ abzutreiben und „Gottes Werk“ zu entbinden? Hier spalten sich die Meinungen des Leiters des St. Cloud’s Waisenhaus, Dr. Wilbur Larch, und die des Waisen Homer Wells.
Im frühen zwanzigsten Jahrhundert wird die Rollenverteilung, die klassistische Gesellschaftsstruktur und Norm keine Hauptthematik, bietet eher eine Gedankenkulisse für die Leser:innen. Fesselnd und herzzerreißend lernt man mit Homer die kleine Welt des Waisenhaus St.Cloud’s kennen und bildet eine Art Vater-Sohn-Beziehung mit Dr. Larch ab, der dem Stereotyp eines Vaters nicht entspricht, sondern mehr dem eines Mentors und Wegweisers.
Man vergisst schnell die Zeit und Umstände in der Handlung und erwischt sich oft dabei, wo die moralische Grenze zwischen „Richtig“ und „Falsch“ liegt und welche Definition von Leben und Mensch die realistischste ist. Mit keinerlei Euphemismen oder platt geschriebenen Szenen spiegelt Irving die Geschichte von Homer dem Waisen, der bei keiner Familie ein Zuhause gefunden hat, sein Heranwachsen und Konflikte mit sich und seiner Umwelt, wieder. Wenn es auch nicht die herkömmlichsten Charaktere in Irvings Geschichten schaffen, dann sind es doch welche, die es in ihrer Absurdität Sympathie und Verständnis bei den Leser:innen auslöst.
Die Geschichte fesselt, Sie reißt einen mit, sie rührt und lässt den eigenen moralischen Kompass hinterfragen.
Und ein ernstgemeinter Rat, wie bei den meisten Büchern, die es auf dir große Leinwand schaffen: Seht es entweder als separates Projekt an oder lasst es sein. Dieses Buch übertrifft jedes Drehbuch und schauspielerische Kunst aus Hollywood.
Buchtipp 5 von Gesche:
„Utopien für Realisten“ von Rutger Bregman
Danny Dorling hat ganz richtig gesagt: „ (Utopia for Realists) is one for today’s dreamers and tomorrow’s realists”.
Erstmals 2014 veröffentlicht, ist dieses Buch immer noch so relevant wie vor sechs Jahren - seit Corona sogar umso mehr, könnte man meinen. Würde man Menschen von vor 300 Jahren erzählen wie die Welt gerade aussieht, würden sie es wahrscheinlich für eine Lüge halten. Und zwar nicht wegen der vielen negativen Schlagzeilen, die wir heute täglich auf unseren Smartphones erhalten, sondern vielmehr, weil wir so etwas wie Smartphones besitzen, weil wir älter als 40 Jahre alt werden, weil Frauen (theoretisch) weltweit wählen dürfen - und, und, und. Bregman weist darauf hin, dass die meisten Meilensteine der Gesellschaft, wie zum Beispiel „das Ende der Sklaverei und der Beginn der Demokratie“, irgendwann mal Utopien waren. Im gleichen Atemzug argumentiert er auch, dass Ideen wie das bedingungslose Grundeinkommen und eine 15-Stunden Arbeitswoche deshalb keine Träume bleiben müssen. Überraschend ist, wie nah manche Länder an diesen Utopien schonmal dran waren oder es sogar gerade sind. Dieses Buch argumentiert faktenbasierend für eine neue Auslotung der Work Life Balance und hinterlässt die Leser:innen verwundert zurück: Warum diskutieren wir noch und verändern nicht schon?
Buchtipp 6 von Robert:
Gegenwartsbewältigung von Max Czollek
Um es vorweg zu nehmen: Max Czolleks Essay ist kein Buch, das sich einfach mal so nebenbei wegliest. Aber das soll es auch gar nicht. Gegenwartsbewältigung hört da auf, wo Czolleks 2018 erschienenes Werk „Desintegriert euch“ aufgehört hat. Czollek schreibt aus einer jüdischen Perspektive und kritisiert das Selbstbild der (weißen) deutschen Mehrheitsgesellschaft. „Gegenwartsbewältigung“ erschien inmitten der Corona-Pandemie und nimmt direkten Bezug auf das politische Handeln während der Krise. So stehe das schnelle und ernsthafte Handeln in der aktuellen Situation beispielsweise durchaus in einem Widerspruch mit der Passivität im Kampf gegen rechten Terrorismus. Czollek schließt daraus, dass die Politik in Teilen auch nicht willens ist, härter gegen Rechts durchzugreifen und verweist auf die rechten Netzwerke in verschiedenen deutschen Institutionen wie der Polizei oder die „beschränkte Solidarität“ der Politik nach den Terroranschlägen in Halle und Hanau. Schließlich ist beim Kampf gegen die Coronapandemie ein anderes Verständnis von „uns“ und „den anderen“ vorhanden, da das Coronavirus jeden treffen kann, während nicht jede Person der deutschen Mehrheitsgesellschaft sich durch Rassismus bedroht sieht. Eine Ursache in diesem Denken sieht Czollek dem Verständnis von einer deutschen Leitkultur. Dieses Konzept hat seine Wurzeln weit vor Nazi-Deutschland, begünstigt aber bis heute völkisches Denken. Mit „Gegenwartsbewältigung“ möchte Czollek diesem Verständnis von Integration und Leitkultur die Idee einer radikalen Vielfalt entgegensetzen. Die Streitschrift regt durch ihren polemischen Stil zur Selbstreflexion und zum Nachdenken an. Zwar könnten die Thesen von Czollek an einigen Stellen ausdifferenzierter sein, aufjedenfall setzen sie aber wichtige Impulse. Bevor ihr „Gegenwartsbewältigung“ lest, solltet ihr „Desintegriert euch!“ lesen, da dann einiges einfacher zu verstehen ist.