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  • Daniel Reinhardt

Wann zeigt der Osten sein wahres Gesicht?

Aktualisiert: 22. Okt. 2020

Da sitze ich nun. Im Flixbus Richtung Berlin. Neben mir zum Glück auf dieser fast sechs stündigen Fahrt niemand. Ständig am Überlegen ob ich nun Netflix schauen oder Spotify hören soll. #thestruggleisreal. Mit der Busfahrerin bin ich tatsächlich schon einmal gefahren – ob es nun Glück oder Pech ist sei mal so dahingestellt. An sich scheint sie total nett und lustig. Nur hat sie mich dabei erwischt, wie ich meinen Rucksack nicht, wie bereits bei der Abfahrt angesagt, nach oben in die Gepäckablage lege – dieser ist so voll gewesen, dass ich ihn da nicht rein quetschen wollte... Aber gut, kurz vor der Abfahrt in Hannover geht sie durch die Reihen und sucht nach Scharlatanen und wird mit mir in der letzten Reihe fündig. Anstatt mich nur darauf hinzuweisen meine Tasche doch bitte oben zu verstauen, hält sie mir eine Moralpredigt und stellt mich vor allen im hinteren Teil des Busses bloß: was wohl alles passieren könnte, wenn alle im Bus auf einmal ganz panisch und schnell aus dem Bus müssten, da wäre meine Tasche wohl so ein großes Hindernis. Aber gut, artig wie ich bin, lege ich die Tasche sofort oben in die Ablage. Weiter geht’s, noch etwa drei, vier Stunden...

Die Fahrt stimmt mich nun doch auch ein wenig nachdenklich. Ein neuer Lebensabschnitt beginnt, ein neues Kapitel wird aufgeschlagen. Ich ziehe um. Aus dem Elternhaus und Hotel Mama raus und rein ins Studierendenwohnheim. Raus aus der Kleinstadt, rein in die Großstadt. Das ist zumindest das was einige tatsächlich dachten, als ich sagte ich ziehe nach Frankfurt an der Oder. Für viele existiert nur die hessische Finanzmetropole mit der Riesenskyline. Aber nein meine Freunde, es gibt auch noch das andere Frankfurt, oder? (Diesen Witz habe ich mir als eine der wenigen Dinge während der Stadtführung in meiner Erstiwoche in Frankfurt gemerkt). Es gibt nicht nur das große Frankfurt am Main sondern auch die kleine Schwester Frankfurt an der Oder in Brandenburg, eine Stunde mit der RE1 von Berlin entfernt, nur durch die Oder vom polnischen Słubice getrennt und mit einer Brücke zur Doppelstadt vereint. Hier in diesem scheinbar einsamen und unbekannten Weiler im tiefsten Osten Deutschlands studiere ich nun. Kaum zu glauben für vieler meiner Familie und eigentlich alle meiner Freunde.


Ich, ein schwuler junger Mann will freiwillig wohl gemerkt in’ Osten. In das Hinterland, zu den Rechten, zu den Hinterbliebenen, den Homophoben. Diese und weitere Vorurteile bekam ich dann immer zu hören. Den geschockten Reaktionen gefolgt kommen Fragen über Fragen, wieso, weshalb, warum... Von allen Seiten bekam ich solche Reaktionen und vor allem noch Warnungen bzw. Ratschläge mich doch bitte nicht “zu offen schwul zu verhalten” (!), was auch immer das bitte genau heißen soll...

Familie, Freunde, Bekannte – jeder machte mich verrückt, warum so weit weg, warum raus aus NRW und dem Westen und rein in den Osten nach Brandenburg, warum in eine kleine Stadt, warum nicht Berlin, warum, warum, warum...

Zu meiner völligen Überraschung wurde ich ja sogar in Berlin an der renommierten Humboldt Universität angenommen, war doch aber mein Notendurchschnitt nicht so gut wie die NCs der letzten Semester dort, aber gut sei’s drum. Ich sagte mir Berlin ist zwar schon echt cool, doch für mich viel zu teuer und vielleicht auch zu viel auf einmal.

So wagte ich es doch tatsächlich mich in Frankfurt an der Oder an der Europa-Universität Viadrina einzuschreiben (hier ist Kulturwissenschaften nämlich NC-frei). Alle in meinem Umfeld, immer noch in Schockstarre, ich völlig verängstigt vor den bösen Ostdeutschen, dem dunklen Frankfurt und total verunsichert auf dem Weg in mein “neues Leben”. Auf der Busfahrt, nach einer Folge von Black Mirror auf Netflix, habe ich nun Zeit dazu mir auszumalen wie es wohl sein wird: Lauter alte Menschen, ihren Alltagstrott nachgehend, keine blühende, geschweige denn bunte Gesellschaft, alte Unihörsäle, völlig leergefegt, runtergekommene Gebäude, AfD-Hochburg, rund um verbitterte Menschen, die nichts vom Großstadtleben wissen wollen, sich um nichts mehr scheren und alles einfach so belassen wie es ist.

Definitiv kein Ort, um mit einer Regenbogenflagge draußen rumzulaufen. Kein Ort für mich. Überhaupt kein Ort für junge Menschen. Wer will da schon hin?

Ende des Semesters. Jetzt sitze ich hier, im coolen Blok-O, einem Co-working Space mit Café voller junger Menschen, die an Hausarbeiten sitzen, Vorträge üben, mündliche Prüfungen in Spanisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch durchgehen, den neusten Klatsch austauschen, über den süßen Typen aus der letzten Reihe im Seminar reden, ihre Handys und Laptops aufladen, um sich zwischendurch mit Social Media, Netflix & Co. abzulenken, Kaffee trinken, lachen und einfach ihr Studentenleben leben – *ihr Studierendenleben leben. Vor dem Fenster lauter Menschen, die herumlaufen, in die Tram einsteigen, ein NewYorker (der Laden wohl gemerkt, kein US-Amerikaner), eine Dönerbude nebenan, winkende Freunde aus dem Wohnheim, die nur kurz zum Hallo sagen reinkommen und dann wieder zur Uni, nach Hause oder nach Polen gehen zum Einkaufen und Zigaretten holen.

Nach einem Seminar am Vormittag, einigen Stunden Arbeit hier im Blok-O, zwei drei Tassen Kaffee mit Milch und Zucker (für mich meistens eher Milch und Zucker und etwas Kaffee) geht es für mich wieder zurück zu einem Tutorium. Warum ich eigentlich überhaupt erst Kopfhörer aufsetze frage ich immer wieder, setze ich sie ja fast sofort wieder ab, weil ich direkt vor der Tür von zwei meiner Mädels (klingt im Englischen mit “hey, girls” einfach besser!) umarmt werde. Kurz überlegt und bemerkt, dass sie am Wochenende auf einer der Partys in meinem Wohnheim waren. Kurzer Small Talk: Kater? Habe ich den Typen rumbekommen, den ich so heiß fand? (leider nicht) Wo war die eine der beiden die letzten zwei Stunden? Hat sie ihn etwa abgeschleppt? Naja, dann gehen die beiden rein, ich setze meine Kopfhörer wieder auf und gehe weite zur Uni. Tatsächlich über den Platz vor dem neuen Audimax-Gebäude ohne eine Störung geschafft, nur einer Gruppe von kolumbianischen Interstudis aus der Ferne zugewunken, mit denen ich am Wochenende Reggaeton getanzt habe. Im zweiten Stock des Audimax angekommen, am Unisex-Klo vorbei in den Raum indem das Tutorium stattfindet, neben eine Freundin gesetzt und dann anderthalb Stunden Tutorium gehabt. Danach endlich ab nach Hause mit der Tram. In diesen 15 Minuten hoffe ich immer darauf, dass ich dort einfach nur sitzen kann und meine Musik hören kann, klappt nicht immer...

Ja, Frankfurt ist nicht groß, die Uni ist nicht groß, gerade mal 60.000 Einwohner, 6000 Studis. Es ist nicht Berlin oder schon gar nicht Frankfurt am Main, doch es hat seinen Charme. Völlig anders als erwartet, es gibt zahlreiche coole Bars, süße Cafés, viele Parks, Theater und Clubs. Ich sage immer wieder ich freue mich hier zu sein, ich bin nicht nur eine Nummer unter Zehntausenden von Studierenden. Jeder kennt sich hier, man trifft sich überall und grüßt sich. Ich fühle mich wohl. In meinem Wohnheim ist immer etwas los, ich habe viele neue Leute aus allen möglichen Ländern der Welt kennengelernt: von Spanien, Frankreich, Italien, Ungarn, der Ukraine über Russland und China, bis zur USA, Mexiko und Kolumbien.


Zwar ist es nur ein wenig größer als meine Heimatstadt, doch so unglaublich anders als dort. Die Atmosphäre in dieser Stadt ist so viel besser als erwartet, klar gibt es auch so manche Ecken und Kanten, doch durch die Studierenden ist es alles schon echt anders. Seitdem ich hier wohne, bin ich so viel offener geworden. So schnell habe ich neue Leute kennengelernt und bin fast täglich von morgens bis abends unterwegs. Ich besuche meine Kurse, unternehme viel mit Freunden, engagiere mich beim FSR Kuwi, gehe zu AStA und StuPa Sitzungen, helfe mit bei der Organisation des Unithea-Festivals hier in Frankfurt und Słubice, treffe Freunde und so weiter und so weiter... Nicht jeder muss bei so vielen Dingen mitmachen und sich überall engagieren, doch für diejenigen, die es wollen, geht das auf jeden Fall echt gut.

Meinen Geburtstag mit allen Freunden im Club auf einer queeren Party gefeiert. Vorher durch die Stadt in der Tram mit Regenbogenflagge, Nagellack und Herzformbrille. Erst gestern Nacht mit mehreren Leuten durch die Stadt gezogen um hellblaue Sticker zu entfernen - hier hatte ein Vorurteil vielleicht teilweise recht, doch unsere Aktion beweist ja, dass das nicht einmal hier erwünscht ist. Der aktuelle Oberbürgermeister kommt von den Linken und auch sonst ist scheint lediglich nur die Bewerbung der Rechten sehr stark!

Es wird so viel angeboten hier, von wegen nichts los. Obwohl oder wohl eher gerade, weil so wenig Studierende hier im Vergleich zu anderen Unis sind fühle ich mich so wohl. Schnell Anschluss gefunden, schnell an das Leben hier gewöhnt und angepasst und schon fühle ich mich wie zu Hause. Klar ist es gut vorher alles zu hinterfragen, doch bisher hat sich, vielleicht bis auf das politische Vorurteil, kein einziges offenbart, da frage ich mich so langsam echt wann sich denn nun das angeblich wahre Ostdeutschland zeigt...

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