- Paula Pötschick
Sehnsuchtsort Hörsaal — Eine Kurzgeschichte
Aktualisiert: 8. Mai 2022
Leise höre ich das Surren eines Staubsaugers aus der Wohnung nebenan . Sonst ist es still, während ich die kalten Reste des Kaffees von heute Morgen trinke.
Für mich fühlt es sich an, als würde ich schon seit Stunden an diesem einen Text für die Uni sitzen. Immer wieder lese ich Wörter, ohne deren Inhalt zu verstehen. Ich seufze und beginne noch einmal von vorn. Geschafft! Und nun zum nächsten Satz.
Ich fühle mich, als stünde ich an einer Straße, an der viele Autos vorbei fahren. Wenn ich mich konzentriere, kann ich mir eines genauer ansehen: Die Farbe, die Marke, vielleicht auch die Macken – aber wenn ich mich dann auf das folgende Auto fokussiere, ist das vorherige weg. Einfach verschwunden in der Ferne. So ist das auch mit den Sätzen in meinen Texten. Am Ende ist der Inhalt wieder weg, verschwunden aus meinen Gedanken. Das Einzige, was bleibt ist eine grobe Ahnung. Sonst nur Leere.
Ich schließe die Augen.
Wie sehr wünsche ich mir jetzt, das Knarzen der Klapptische in den Sitzreihen im Hörsaal zu hören. Das Rumrutschen auf den Holzstühlen, weil niemand es für nötig befand, diese mit Polstern zu versehen. Das leise Gemurmel der Menschen, die mit mir für 90 Minuten einem Thema lauschen, das vom Pult aus auf der Bühne vorgetragen wird.
Ich erinnere mich daran, wie ich morgens aufgestanden bin und überlegte, welche Bücher ich einpacken muss. Wie ich gehofft habe, dass meine Freunde und Freundinnen schon im Raum sind und mir einen Platz freihalten würden. Am Liebsten in der unteren Hälfte relativ mittig, da hat man den besten Blick auf die Präsentation.
Dann bin ich die Stufen hochgelaufen und manchmal musste ich Leute aufscheuchen, um zu meinem Sitz zu kommen. Immer wieder ein entschuldigender Blick: „Sorry ich muss da mal durch... Danke“. Manche sind aufgestanden, andere haben die Beine zur Seite gedreht — So habe ich mich durchgekämpft bis zu meinem Klappstuhl.
Es ist nicht so, dass ich nicht schon von Anfang an dem Ende entgegengefiebert habe. Manchmal mehr, manchmal weniger. Aber endlich war es dann doch immer.
Nicht so wie heute. Mit diesem einen Text, den ich nun schon seit Stunden lese, auf jeden Fall länger als 90 Minuten. Ich fühle mich so alleine mit meinem Unvermögen, mich zu konzentrieren. Im Hörsaal war ich nie die Einzige, die neben dem Schreibprogramm noch mindestens ein Spiel auf dem Laptop offen hatte. Immer wieder wechselnd von einer Seite zur nächsten, um trotzdem hoffentlich das Wesentlichste mitzuschreiben.
Ich sehne mich nach den Zwischenfragen, in denen ich mir hektisch meine letzten Notizen anguckte und hoffte wenigstens ansatzweise eine Ahnung zu haben. Ich sehne mich nach dem Gefühl, dass ich hatte, wenn die Zeit schon um war und alle angespannt darauf warteten, dass auch die Vorlesung zum Ende kommt. Ich sehne mich nach dem abschließenden Klopfen auf den Tischen, weil das halt so gemacht wird — Aus Dankbarkeit etwas Neues gelernt zu haben. Und ich sehne mich nach dem anschließenden Geklapper und Geraschel, wenn alle ihre Sachen zusammen kramen um zur nächsten Veranstaltung zu hetzen, in die Mensa zu gehen oder die Tram noch rechtzeitig zu erreichen.
Die Augen öffnend blicke ich mich um. Mein Bett ist noch genauso unordentlich, wie ich es heute morgen verlassen habe. Der letzte Rest an Kaffee in meiner Tasse ist sogar noch kälter geworden. Noch ein Schluck, dann ist sie leer.
Die Seiten mit Wörtern aus Buchstaben sind immer noch da. Mehr kann ich im Moment nicht in ihnen sehen. Nur Buchstaben, die nichts erzählen. Die meine Neugier nicht wecken und die mir ihr Wissen nicht preisgeben wollen.
Heute fehlt mir die nötige Disziplin um die Buchstaben zu Wörtern, die Wörter zu Sätzen und die Sätze zu einem Text zu verbinden.
Also lasse ich es sein. Schließe die Augen. Und träume weiter von Hörsälen.