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  • Matthias Hempert

Resonantes Reisen

Aktualisiert: 22. Okt. 2020

Wer das Klima schützen will, darf die Augen vor den ökologischen Folgen von Flugreisen nicht verschließen. Doch aufs Flugzeug zu verzichten ist kein Verlust, wenn wir unser Verhältnis zum Reisen überdenken.


Reisen ist großartig – egal, ob man fremde Kulturen kennenlernen, sich von der Stimmung eines anderen Ortes inspirieren lassen, eine neue Sprache lernen, die Natur genießen oder sich einfach nur an einem ruhigen Ort, weit weg vom Alltag, entspannen möchte. Die Sache hat einen Haken: Mobilität ist ökologisch betrachtet immer mit Emissionen verbunden, Flugreisen sind hier besonders problematisch. In Zahlen heißt das: Um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, also die Erderwärmung auf weniger als zwei Grad Celsius gegenüber dem Zustand vor der Industrialisierung zu beschränken, dürfte jeder Deutsche perspektivisch eine Tonne CO2 pro Jahr verbrauchen. Im Schnitt verbraucht jeder Deutsche derzeit 11 Tonnen CO2 pro Jahr. Eine Flugreise (Hin- und Rückflug) nach New York stößt pro Kopf bereits knapp vier Tonnen CO2 aus. Der Sommerurlaub in Spanien produziert rund 700, der Heimaturlaub in den Semesterferien (Strecke Berlin-Köln) etwa 300 Kilogramm CO2 pro Kopf. Zum Vergleich: Mit dem Zug verbraucht man bei der Reise Berlin-Köln mit 27,6 Kilogramm CO2 nicht einmal ein Zehntel dessen, was eine Flugreise an CO2 ausstößt. Fliegen ist als Form des Reisens in ökologischer Hinsicht inakzeptabel.


Sicher, es ist manchmal günstiger, eine Strecke zu fliegen als sie mit dem Zug zurückzulegen. Doch gerade für innerdeutsche Verbindungen überzeugt dieses Argument nicht: Wer unter 27 ist, kann für rund 60 € im Jahr eine Bahncard 50 kaufen, mit der Tickets für Fernzüge der Deutschen Bahn bis zu 50% günstiger zu haben sind. Auch das dichte Netz an Fernbussen ist eine gute und günstige Alternative zum Flugzeug.


Grundsätzlich scheint das Bewusstsein, etwas gegen den Klimawandel unternehmen zu müssen, aber weit verbreitet. Schaut man sich auf dem Campus der Viadrina um, sieht man viele Jutebeutel und praktisch keine Plastiktüten, viele wiederverwendbare Kaffeebecher; Müllvermeidung wird zu Recht großgeschrieben. Doch hört man sich bei den Studierenden um, wie oft und wohin in den Urlaub geflogen wird, offenbart sich eine Diskrepanz: Mal für zwei Wochen nach Thailand, Bali oder Chile fliegen, das darf schon sein. Dafür kauft man ja auch viele Bio-Produkte und benutzt beim Obst- und Gemüsekauf niemals Plastiktüten. So richtig Letzteres ist: Wer glaubt, individuell reduzierter Plastikverbrauch wöge Flugreisen auf, der macht sich etwas vor. Ökologischer Nutzen und Schaden stehen hier in krassem Missverhältnis.

Zwar ist es richtig, dass großer sozialer Wandel nicht allein durch individuelle Konsumentscheidungen herbeigeführt wird, weil niemals alle Menschen freiwillig die nötigen Schritte gehen werden. Es braucht dafür politischen Druck, der zu politischen Entscheidungen führt, die allein in der Lage sind, ökologische Maßnahmen verbindlich und allgemein durchzusetzen. Doch entbindet diese Tatsache mündige Bürger nicht von der Verantwortung, die Schäden, die das eigene Verhalten hervorruft, soweit möglich und zumutbar, zu beheben. Wer darüber Bescheid weiß, wie schädlich Flugreisen sind, kann nicht einfach mit dem Finger auf die Politik zeigen und sagen: Dann verbietet es mir doch!


Müssen wir also der Umwelt zuliebe zukünftig aufs Reisen verzichten? Nein, aber wir sollten in verschiedener Hinsicht unser Verhältnis dazu hinterfragen. Das gilt für unsere innere Einstellung zum Reisen, für die Reiseziele sowie für die Fortbewegungsmittel, die wir fürs Reisen nutzen.

Wer wirklich reisen möchte – also nicht nur im Fastfood-Modus Orte konsumieren, um sich für Instagram vor ein paar Sehenswürdigkeiten abzulichten – der konfrontiert sich mit dem Fremden, was eine spannende, aber auch herausfordernde und mitunter anstrengende Erfahrung ist. Je fremder der Ort, den man bereist, desto herausfordernder ist die Erfahrung. Daher ist es nur sinnvoll, für weite Reisen auch viel Zeit mitzubringen, also seltener, aber dafür länger zu reisen. Ist es nicht viel spannender, bei einer Reise nach Marokko zuerst mit dem Zug über Frankreich nach Spanien zu fahren, dort einen Zwischenstopp einzulegen, zu beobachten, wie sich schon auf dem Weg zum Reiseziel Landschaft, Sprache und Kultur verändern und dann mit der Fähre nach Marokko überzusetzen als mit der Ryanair-Maschine in vier Stunden von Berlin nach Marrakesch zu jetten? Bei einer solchen langsamen Reise kann das auftreten, was der Soziologe Hartmut Rosa als Resonanz bezeichnet – eine Beziehung zur Welt, in der man sich anrufen lässt und antwortet, in der man auch bereit ist, sich ergebnisoffen weiterzuentwickeln; Voraussetzung dafür ist, der Welt nicht im Modus des Verfügbarmachens zu begegnen, indem man also etwa nach Paris fährt, weil man da ja mal gewesen sein muss, dann eine Sehenswürdigkeit nach der anderen abklappert, überall ein paar Fotos knipst und am Ende enttäuscht feststellt, nach dem Urlaub gestresster zu sein als davor. Vielmehr gilt es zu akzeptieren, dass Resonanzmomenten bei einer Reise immer auch etwas Unverfügbares anhaftet, dass man die spannende interkulturelle Erfahrung nicht bei Airbnb kaufen kann.


Doch man sollte Rosas Unverfügbarkeit in ökologischer Hinsicht noch weiterdenken: Anders als die Tourismusindustrie uns weismachen will, sollten wir akzeptieren, dass nicht jeder Ort jederzeit verfügbar ist. Dadurch beginnen auch die Orte, die wir vorher vielleicht für langweilig gehalten haben, zu uns zu sprechen und uns zu interessieren. Es gibt keinen guten Grund zu glauben, wir würden nur bei einer Stadtreise nach Los Angeles und nicht nach Amsterdam glücklich, wir könnten nur beim Yoga-Retreat in Indien wirklich entspannen und nicht bei einer Fahrradtour durch Brandenburg oder einer Wanderung in der Sächsischen Schweiz. Man sollte sich bei der Auswahl des Reiseorts die Frage stellen, ob es tatsächlich der Ort ist, den man so spannend findet, oder ob nicht auch Status und Anerkennung eine Rolle spielen, wenn man staunenden Zuhörern von den spannenden Backpacking-Erfahrungen aus Georgien berichten kann.

Die gute Nachricht zum Schluss: Es lassen sich von Frankfurt aus ohne Umstieg viele unheimlich aufregende Reiseziele einfach, günstig und entspannt mit dem Zug erreichen. Dazu zählen Danzig, Warschau, Breslau, Bratislava, Wien, Budapest – sogar nach Moskau und Paris gibt es direkte Zugverbindungen. Von Berlin aus eröffnen sich noch zahlreiche weitere Ziele, die ohne Umstieg zu erreichen sind: Amsterdam, Hamburg, München, Basel und Prag, um nur einige zu nennen. Es muss also niemandem, der nicht fliegt, langweilig werden. Die individuellen CO2-Emissionen lassen sich so aber unter Umständen um einige Tonnen jährlich reduzieren.

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