Nathalie Trappe
Erasmus in Istanbul: Efes, Sorgenfalten und eine überstürzte midlife crisis
„Ich glaube, deine Seele ist ungefähr 50“. Diese Worte erklingen wie ein Donner in meinen Ohren, als ich an einem frisch gezapften Efes-Bier nippe. Ja, Corona hatte mich definitiv altern lassen – aber war es wirklich so schlimm?
Die Worte stammen von einem türkischen Studenten, der gerne Bier trinkt. Ja, in diesem Land, von dem viele noch immer nur im Zusammenhang mit Nato oder Migration sprechen, gibt es mehr als Erdogan und Döner (der in Berlin übrigens besser schmeckt). Obwohl dieses Land nicht Teil der Europäischen Union ist, mache ich genau hier Erasmus, nach zwei Jahren Pandemie. Raus aus der Komfortzone, rein ins Abenteuer? So beginnt ja irgendwie jede Erasmus-Geschichte. Doch eigentlich ist Erasmus so viel mehr als ein Abenteuer, so viel mehr als kostenlose Shots und so viel mehr als Knutschen zu schlechtem Reggaeton. Klingt ebenfalls nach Weisheiten aus der midlife crisis, doch es stimmt.
Im Bachelor habe ich schon zwei Erasmus-Semester gemacht – allerdings in Frankreich, quasi der erweiterten Komfortzone. Mein Erasmus im Master ist ein anderes Kaliber. Ich spreche die Nationalsprache nicht, in der Uni gibt es aufgrund der Unterrichtssprache quasi nur Erasmus-Studierende aus Frankreich und ein paar Tausend Kilometer über dem Meer bricht gerade als ich ankomme ein Krieg aus. Die Diskussionen sind politischer, die Begegnungen tiefgründiger.
Zwei Jahre lang saß ich auf der Couch und sah der Welt beim Pandemieren zu, unfähig zu handeln und aus der Retrospektive auch unfähig zu denken. In Istanbul ändert sich das schlagartig. Hier kann ich nicht nur wieder in Bars gehen, ich kann auch eine der wichtigsten Aktivitäten im Studi-Life genießen: Studieren. Anfangs muss ich zwar noch eine Maske tragen, doch auch diese Regelung wird bald gekippt. Ich lerne Menschen aus aller Welt kennen, beginne auf Englisch zu denken und zu träumen. (Gibt es jetzt noch eine Person unter euch, die mich nicht für Lisa aus Australien hält?) Aber ich lerne eben auch Menschen kennen, die in der Türkei aufgewachsen sind. Die meisten von ihnen nicht in Istanbul, der wohl europäischsten Stadt des Landes. Und wahrscheinlich werden es diese Menschen sein, die meine Sicht auf das Leben für immer prägen werden, so pathetisch das auch klingen mag. Wir reden über Kommunismus, über Alkoholkonsum und über Pünktlichkeit – denn irgendwie bin ich immer die Erste im Seminar.

Anfangs brauche ich auch meine Zeit, um mich wieder an große Gruppen und Gespräche mit Fremden zu gewöhnen. Doch dann merke ich, wie mein Körper seit Monaten danach verlangt hat. Denn ich könnte noch so viele Texte lesen über Europa, über potenzielle gemeinsame Identität oder über unsere politischen Vorhaben, es würde nie dem entsprechen, was ich hier erlebe. Es hat mir gezeigt, wie wenig viele über Länder außerhalb der EU wissen – und wissen wollen. Andersherum jedoch wissen die Studierenden hier so viel mehr über uns. Immer wieder schienen sich bei jenen Gesprächen über die jeweilige Lebenssituation Sorgenfalten um meine Augen zu bilden. Doch dann sagte der oben zitierte türkische Freund: „Don’t be sad, your life is too good to be sad“. Auch wenn diese Worte nur dafür sorgten, dass ich mich mehr wie ein schuldiges privileged white girl fühlte, hat er sehr wahrscheinlich Recht. Wir beschweren uns gerne über schlecht gestellte Klausurfragen, magere Parteitage oder neu gewonnene Zeit für Bananenbrot-Rezepte. Aber wir sollten eben nicht vergessen, auch einmal ein Auge auf das zu werfen, was außerhalb unseres Horizontes liegt. Wenn ihr mir nicht glaubt, meldet doch einfach mal ein Erasmus-Semester an – am besten, bevor eure Seele 50 Jahre alt wird.