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  • Matthias Hempert

Corona - Chance im Chaos?

Aktualisiert: 22. Okt. 2020

Die Corona-Pandemie und ihre Bewältigung haben unser Leben in einem Tempo und einer Radikalität umgekrempelt, die sich vorher kaum jemand hätte vorstellen können. Für uns alle bis tief in unsere private Lebensgestaltung spürbar ist sie ein Ereignis, das viele Fragen aufwirft. Wie konnte es dazu kommen? Was können wir aus den Erfahrungen mit der Pandemie lernen? Welche Gefahren birgt die Krise über die bloße gesundheitliche Bedrohung hinaus? Wie nachhaltig werden die Veränderungen sein, die diese Krise mit sich bringt? Herausfordernde, irritierende Ereignisse sind Momente, in denen public intellectuals – ob aus Philosophie, Soziologie oder Literatur – mit ihren Deutungen Impulse zur Orientierung geben können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit folgt eine Tour d’Horizon, die Perspektiven intellektueller Stimmen zur Corona-Pandemie skizziert.


Nicht mehr höher, schneller, weiter

Eine „endlose Abfolge von Sonntagen“ und ein „60er-, 70er-Jahre-Gefühl“ bei einem Blick auf den blauen Himmel ohne Flugzeugverkehr nimmt der Philosoph Richard David Precht in der Corona-Zeit wahr. Dies lasse spürbar werden, dass es nicht immer höher, schneller, weiter gehen müsse. Der Mensch werde sich in der Krise seiner biologischen Verletzlichkeit bewusst und damit der Tatsache, dass er näher mit Tieren verwandt ist als mit Smartphones. Precht zieht eine Verbindung zwischen Corona- und Klimakrise: Der Staat zeige aktuell, dass er in der Lage sei, Handlungsempfehlungen der Wissenschaft zu folgen, obwohl er dies in klimapolitischen Fragen immer geleugnet habe. Der Klimawandel sei aber die weit größere Bedrohung als das Coronavirus, denn er sei eine langfristige Herausforderung, die nicht absehbar verschwinden werde. Dass die Politik derzeit daran arbeitet, zu einem Status quo ante zurückzukehren, sei klimapolitisch der völlig falsche Weg und zeuge besonders von einem Versagen der Grünen, eine echte Alternative anzubieten.

Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit

Der Soziologe Hartmut Rosa erkennt in der durch den Lockdown eingetretenen massiven Reduktion von Produktion, Handel und Verkehr eine Entschleunigung, die durch politisches Handeln hergestellt wurde und nicht etwa notwendig aus dem Virus folge. Dies deutet er als eine Selbstwirksamkeitserfahrung, die die radikale Handlungsmacht der Politik auch gegenüber anderen politischen Herausforderungen offenbare: der Klimakrise oder Verteilungsfragen stünden wir ebenfalls nicht ohnmächtig gegenüber. „Die Annahme, das normativ gebotene Primat der Politik könne gegenüber den Eigenlogiken funktionaler Differenzierung nichts mehr ausrichten, erweist sich damit schlicht als falsch.“

Krise der kapitalistischen Lebensform

Als Krise der kapitalistischen Lebensform deutet die Berliner Philosophin Rahel Jaeggi die Corona-Pandemie. Sie weist darauf hin, dass sich der Gesundheitsschutz als öffentliches Gut jeder Marktlogik entziehe und daher auch nicht marktwirtschaftlich organisiert sein solle; daran anknüpfend fordert sie die radikale Infragestellung der marktliberalen Ideologie. Krise und Krisenmanagement brächen mit sicher geglaubten Gewissheiten – die Corona-Krise könne so zu einem Umschlagspunkt werden, an dem Gestaltungsspielräume erkannt und eingefordert werden und letztlich der politischen Alternativlosigkeit ein Ende bereitet werde.

Das Ende der Freiheit

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hält die Entwicklungen der Corona-Krise für einen ethischen und politischen Zusammenbruch. Diese drastische Einschätzung begründet er mit den Toten, die in Italien oftmals allein sterben mussten und ohne Bestattung verbrannt wurden sowie mit den Freiheitseinschränkungen ungekannten Ausmaßes – jeweils auf Grundlage eines „nicht näher zu bestimmenden Risikos“. An der Wurzel des Problems erkennt Agamben die falsche Aufspaltung des Lebens in ein bloßes biologisches Leben einerseits und ein kulturelles, geistiges Leben andererseits. Er befürchtet, dass die medizinische Reduktion auf das bloße biologische Leben auch nach dem Ende des Lockdowns als neue Normalität durchgesetzt werden solle: Social Distancing als „das neue Organisationsprinzip der Gesellschaft“. Die Juristen seien Agamben zufolge ihrer Aufgabe, die Gewaltenteilung zu kontrollieren, nicht ausreichend nachgekommen und so habe man den Eindruck, die Worte der Regierungen hätten unmittelbare Gesetzeskraft, „wie man dies einst von den Worten des ‚Führers‘ sagte.“ Man könne nicht auf die Freiheit verzichten, um sie zu retten.

Rückkehr des regulierenden Staates

Die Rückkehr einer starken Staatlichkeit ist für den Soziologen Andreas Reckwitz eine zentrale Erkenntnis aus der Corona-Krise. Der Staat sei in der Spätmoderne (etwa seit den 1970er-Jahren) in den Hintergrund getreten; im Vordergrund hätten Wirtschaft, Technologie und Kultur gestanden. Jedoch sei schon vor der Corona-Krise die Notwendigkeit eines stärker regulierenden Staates deutlich geworden, in Bezug auf Verteilungsgerechtigkeit ebenso wie auf die Klimakrise oder kulturelle Fragen. In der Corona- wie in der Klimakrise gehe es um Risikopolitik: Die Erfahrungen in der Krisenbewältigung sollte sich die Politik mit Blick auf die Klimakrise zunutze machen. Es sei aber vorschnell, von einem umfassenden Wandel der Gesellschaft durch Corona auszugehen, denn die Konfliktlinien der Gesellschaft (etwa Liberale versus Populisten) blieben gleich. Bestehende Strukturen würden aber durch die Krise deutlicher – so könne der Lockdown von der akademischen Mittelklasse im Homeoffice als idyllische Entschleunigungserfahrung wahrgenommen werden, für die meisten Menschen sei die Situation aber eine andere.

Den Tod nicht verdrängen

Die Schriftstellerin Thea Dorn analysiert ein ethisches Dilemma zwischen Gesundheit und Freiheit. Einerseits fragt sie sich, was das Leben noch wert sei, wenn die Freiheit fehle; andererseits sorgt sie sich, mit einer solchen vermeintlich liberalen Argumentation vielmehr zum Darwinismus oder Utilitarismus zu mutieren. „Parolen eines Schönwetter-Liberalismus“ seien jedenfalls aktuell nicht hilfreich – man müsse sich schonungslos mit der eigenen Sterblichkeit auseinandersetzen und mit der Frage, welchen Tod wir uns gesellschaftlich zumuten können und wollen. Mit Standfestigkeit und Tapferkeit auf den Tod zu blicken, falle uns heute, ohne auf jenseitigen Trost hoffen zu können, aber ungleich schwerer als Menschen in anderen Gesellschaften. Ihre Sorge, „dass wir bei unseren verzweifelten Anstrengungen, die gegenwärtige Seuche einzudämmen, ein Leid anrichten, das möglicherweise noch bitterer ist als der Tod selbst: das Leid, Menschen einsam und ohne Aussicht auf Trost sterben zu lassen“, führt sie zu dem Plädoyer, einen reiferen Umgang mit der Endlichkeit des Lebens zu entwickeln.

Drostens weibliche Autorität

Als Privileg deutet die Philosophin Svenja Flaßpöhler die Möglichkeit, in Zeiten der Pandemie Abstand halten zu können, statt wie Menschen in Flüchtlingslagern auf engem Raum leben zu müssen. Sie wirbt dafür, eine über die Sprache hergestellte „nicht-taktile“ Nähe neu zu entdecken; auch in dieser Hinsicht werfe die Krise als radikaler Bruch mit der Normalität die urphilosophische Frage auf: „Was ist das gute Leben?“ Im Corona-Krisenmanagement sei es zwar wichtig, sich nicht blind der Virologie zu überlassen. Dennoch sei es berechtigt, Virologen wie Drosten als Autoritäten zu folgen; dieser sei „erfrischend“ darin, seine Autorität zu reflektieren und beharre auf einer erkenntnistheoretischen Ungewissheit. Auf eine solche im Stil weibliche Autorität könne man mit guten Gründen vertrauen.

Eliten in Panik

Auch der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Zizek weist darauf hin, dass nur eine privilegierte Elite es sich leisten könne, zu Hause in Isolation zu sein. Den Regierungen komme derweil eine große Macht zu, im Notstand die Panik der Menschen auszunutzen, um Freiheiten einzuschränken; eine Versuchung, davon Gebrauch zu machen, sei nicht von der Hand zu weisen. Jedoch seien gerade auch die Mächtigen derzeit in Panik, weil sie die Situation nicht kontrollieren können. In China ebenso wie in Staaten der westlichen Welt sei das Grundvertrauen in die Ordnungsfunktion des Staates beschädigt. In der Geschichte von Revolutionen könne man immer wieder Momente symbolischer Brüche beobachten, in denen die Menschen sich von den Eliten abwenden; etwas Derartiges geschehe auch jetzt.

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