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  • Katharina Birjukov

Arbeiter*innenkinder: soziale Herkunft im Wandel.

Ich weiß noch, wie vor ein paar Jahren mein Weg an die Uni begann: zu Hause bei meinen Eltern in meiner Heimatstadt, mit dem Laptop auf dem Schoß. Vor kurzem hatte ich meinen Zulassungsbescheid erhalten. Jetzt musste ich einen „Antrag auf Immatrikulation“ ausfüllen. Meine Eltern sitzen einen Raum weiter: Ich gehe zu ihnen und frage: „Wisst ihr, was eine Immatrikulation ist?“ Fast gleichzeitig antworten beide: „Frag Google!“

Heute blicke ich mit einem Lächeln auf diese Szene zurück. Mittlerweile studiere ich im Master. Doch Semester für Semester fühlt sich alles neu an. Meine Eltern erleben alles durch meine Erzählungen und verstehen häufig nicht, was ich eigentlich mache, „dort“ an der Universität oder generell mit meinem Leben. ,,Akademisches Arbeiten“- diese Welt mit ihren Regeln und Begrifflichkeiten ist für sie fremd. Denn ich bin die Erste in meiner Familie, die studiert: ein Arbeiter*innenkind.

Meine Eltern wollten immer, dass ich studiere, sie haben mich immer unterstützt. Und damit hatte ich großes Glück, denn das ist nicht bei allen Arbeiter*innenfamilien so. Von 100 Kindern aus Akademiker*innenfamilien gehen 79 studieren, bei Kindern aus Arbeiter*innenfamilien sind es nur 27, so im Hochschulbildungsreport. Das hat vielfältige Gründe. Zum einen erfahren Arbeiter*innenkinder häufig weniger Unterstützung von ihren Familien, wenn sie sich für ein Studium entscheiden. Vor allem wer Studiengänge ohne klares Berufsfeld anfängt, wie etwa Kultur- oder Medienwissenschaften, stößt oftmals auf großes Unverständnis. „Mach lieber was vernünftiges.“ Auch das finanzielle Risiko ist groß. Nach der klassischen und sehr romantisierenden Vorstellung haben Studierende wenig bis auf viel Freizeit und Spaß. Pasta-Pesto, Party.

Die Realität hat einen bitteren Beigeschmack. Nach einer aktuellen Studie der Paritätischen Forschungsstelle ist jede*r dritte Studierende arm. Konkret bedeutet das, man hat weniger als 1.200 Euro im Monat zur Verfügung, hier liegt die Armutsgrenze. Studierende haben in Deutschland durchschnittlich 800 Euro. Wie gut, dass man einfach BaföG beantragen und sorgenfrei studieren kann, richtig? Kurioserweise sind genau die BaföG-Empfangenden überproportional von Armut betroffen, 45 Prozent, um es genau zu nehmen. BaföG beziehen heißt Zeitdruck, denn der Förderungszeitraum richtet sich nach der Regelstudienzeit. Der monatliche Höchstsatz betrug zuletzt 861 Euro. Vor allem wenn man nicht den Höchstsatz bekommt, muss man neben dem Studium arbeiten, weswegen weniger Zeit zum Studieren bleibt. Bis zur Bewilligung eines BaföG-Antrags kann es außerdem Monate dauern. In der Zwischenzeit sitzt man auf dem Trockenen. Fürs Sozialleben, Hobbys und Kochen bleibt da wenig Zeit. Und was, wenn ich mich noch gesellschaftlich oder politisch engagieren möchte? Wer bekommt gerade beim Lesen Stressschweiß?

All das macht ein Studium in Regelzeit unwahrscheinlicher und Studienabbrüche wegen finanzieller Sorgen wahrscheinlicher. Laut dem Hochschulbildungsreport kommen 72 Prozent der Studierenden, die ihr Studium aus finanziellen Gründen abbrechen, aus Arbeiter*innenfamilien. Aus Angst vor Schulden beantragen viele von ihnen kein BaföG, die Zahl der BaföG-Empfangenden geht auch stetig zurück. Im Fall, dass beide Eltern Vollzeit arbeiten, ist man übrigens häufig schon über der Vermögensgrenze beim Bafög. Dass die Eltern trotzdem finanzielle Sorgen haben, weil sie beispielsweise unterbezahlte Jobs in der Pflege ausüben oder wegen Wirtschaftskrisen um ihre Arbeitsplätze bangen müssen, bleibt hier außer Acht.

Der Satz „In Deutschland kann jeder studieren, hier haben alle die gleichen Chancen“ klingt zunehmend zynisch. Arbeiter*innenkinder haben weniger Ressourcen und können nicht auf vergleichbare Netzwerke zugreifen. Nach der PISA Studie von 2018 ist in Deutschland der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg im OECD-Schnitt besonders hoch. Arbeiter*innenkinder erleben bestimmte Sachen häufig etwas später: Friseur- und Restaurantbesuche, Taxifahren, Strandurlaub, den Zugang zu Office-Programmen. Häufig fühle ich mich, als wären mir alle ein paar Schritte voraus. Als wäre es für die anderen einfacher und als hätten sie nützlichere Kontakte. Besonders, wenn ich von spannenden unbezahlten Praktika höre. Was ist mit denen, die sich ein unbezahltes Vollzeitpraktikum nicht leisten können? Schade um den Lebenslauf.

Ungleiche Ausgangsbedingungen von Schüler*innen und Studierenden dürfen nicht ignoriert werden. Denn hinter der Entscheidung für oder gegen ein Studium oder Schwierigkeiten beim Studieren steht meistens mehr. Wie ein Wandel konkret aussehen kann? Das weiß ich nicht, „Google fragen“ geht in diesem Fall nicht. Aber ich weiß, dass wir ihn brauchen und es geht nicht ohne Arbeit(er*innenkinder).



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